Gibraltar-Melbourne
 
Samstag, 12.8.
Nur mühsam wollen wir unsere Häupter erheben, haben doch Krethi und Plethi gestern Abend, ohne ein Ende zu finden, in dem Quartier des Kapitäns alkoholische und vielleicht auch andere, in jedem Falle laute, Exzesse vollzogen. Außerdem lockt uns der Wetter gar nicht - wie gestern hängen wir in einer dicken Suppe, die sich anfühlt wie Phoenix hoch drei im August, wenn alle Pools voll und alle Sprinkleranlagen eingeschaltet sind. Der Nebel, der über der glatten See liegt, die erstaunlicherweise immer noch Atlantik heißt, lichtet sich erst am Nachmittag, und der sanfte Wind von achtern ermöglicht uns große Taten - wir erkunden das Vorschiff.
Erstaunlich, wie schnell man es schätzen lernen kann, mal gute 100 Meter geradeaus gehen zu dürfen! Immer an der Schiffswand lang, zum großen Teil unter Containern, kommt man auf einem Gang, der breiter ist, als er aus unserer luftigen Höhe betrachtet zu sein scheint, zur fast leeren Schiffsnase - leer von Last, aber geprägt durch Ankerei. Wir fühlen uns wie Nelson und Hornblower in einem und genießen etwas, was auf diesem Kahn absolute Mangelware ist: Stille.
Nach dem Aufbereiten unserer Bilderausbeute ist es auch schon Zeit für fas zweite Großereignis des Tages: die Saturday Night Party. Dafür ist schon den ganzen Tag lang eifrig gearbeitet worden: Das Achterdeck wurde geschrubbt und geschmückt, und seit 12 Uhr dreht sich ein Spanferkel am Spieß. Schon vor sechs werden wir telefonisch herbeizitiert und sehen endlich alle Mann auf einem Haufen - nein, nicht ganz, zwar alle Mann, aber in zwei Gruppen. Die meisten Philippinos drängen sich um die Grills, auf denen man brutzeln lassen kann, was man möchte - vom Muscheln bis zum T-Bone-Steak ist alles im Angebot. Nur ein paar sitzen zusammen mit den Offizieren am Tisch. Aber alle werden gnadenlos musikalisch beschallt - wie können Menschen, die ungemein krachige Arbeitsbedingungen haben, es als Erholung betrachten, wenn sie noch mehr Krach ausgesetzt sind? Fragen über Fragen! Jedenfalls lässt es sich gut essen und kräftigen Punsch trinken, allerdings nicht gut plaudern, aber das macht nichts, denn es gibt zu gucken: Europa! Afrika! Zwischen sieben und acht Uhr passieren wir Gibraltar, wobei sich Afrika als wesentlich imposanter erweist als Europa. Und für uns springen auf dieser Fahrt die ersten Delfine!
Je später der Abend, desto Karaoke. Zum ersten Mal sehen und hören wir, wie so was mit filmischer Unterstützung funktioniert, und bekommen wohl auch mit, was die Theorie behauptet: Karaoke ist vor allem für Asiaten eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, was eigentlich verpönt, hier aber machbar ist, weil man sich hinter anderen verstecken kann.
Wir gehen ob der alkoholischen Dröhnung etwas besorgt ins Bett, wachen aber mit erstaunlich klarem Kopf auf.

Sonntag, 13.8.
Allerdings genehmigen wir uns einen Langschlaf, so dass wir das Frühstück verpennen. Macht nichts - hat Ini doch sogar gestern Abend noch ihren Süßzahn befriedigen und ein großes Stück deutscher Tiefkühltorte verspeisen dürfen! So gehen wir ungegessen neugierig zu Kays Verabredung mit dem Chief, der uns sein Maschinenbaby zeigen will. Zünftig werden wir mit weißen Handschuhen und Gehörschutz ausgerüstet.
Dann geht es nicht in die Keller des Vatikans, sondern der Aenne, in denen es heiß, mitunter ölig riechig und fast überall sehr laut ist. Im Zentrum ruht der sieben Zylinder besitzende Zweitakt-Diesel, der am Tag 80 t Bunker, auf 230° erhitzt und gereinigt, in 28000 PS umsetzt. Die Maschine läuft mit etwa 80 Umdrehungen und treibt über eine Welle von etwa 0,8 m Durchmesser direkt den Propeller an. Auch die Nebengeräte - vier Generatoren mit 6000 kW, Bunkeraufbereitung, Wasserdestillation, Rudermaschine - sehen sehr imposant aus in den großen Hallen, die man in dem kleinen Schiffsinneren gar nicht vermuten würde. (Äh, darf ich mal fragen, ob du das mit „klein“ ernst gemeint hast, Großer?)
Hungrig wie die Wölfe stürzen wir uns pünktlich um 12 Uhr auf den Sonntagslunch, den wir in allen seinen Varianten vertilgen, angefangen von der Kuttelfleck (?)-Suppe über Steak frites bis zur großzügigen Portion Schokoladeneis. Victoria leistet uns ebenso gefräßig Gesellschaft, Jenni dagegen pennt immer noch.
Nach dem Herumfleißen mit dem gestern vernachlässigten Tagebuch feiern auch wir, ebenso wie der Großteil der Mannschaft, heute unseren freien Tag und gehen nicht zur Sprachschule. Ini verschwindet stattdessen in einer von zwei Müttern aller Deckstühle, die wir heute früh vor unserer Tür vorgefunden haben, und lässt sich gut eingecremt und behütet von der Mittelmeersonne verwöhnen. Da der Wind sich abends legt, wagen wir uns nochmals nach vorne und starten einen Quallenausspäh-Wettbewerb, den Kay eindeutig gewinnt. Zu unserer Freude schwimmt ein Delfin vor dem Schiff einher, das, wie Kay behauptet, immer langsamer wird - das kann doch aber gar nicht sein, oder?
Doch, es kann. Wir sind nämlich viel zu schnell, und da der Fahrplan natürlich wegen der Frachtlogistik eingehalten werden muss, wird die Maschine einfach gestoppt, und wir dümpeln auf der Stelle vor uns hin. Der Pott macht eigentümliche Bewegungen, und wenn uns eine sanfte Welle trifft, rummst es regelrecht.

Montag, 14.8.
Wegen des erratischen Schiffsverhaltens schlafen wir gar nicht gut, erst als der Wachhabende gegen halb sechs den Moor anschmeißt, wird alles wieder „normal“. Sonntag war gestern - anstelle der Schwelgerei wird wieder Normalkost serviert. Kay verbringt den Tag mit waschenden Housekeeping-Aktivitäten, und eine Maschine der französischen Marine braust über das Meer und schafft es gerade so, unsere Aufbauten nicht abzurasieren. Der Wind bläst gar kräftig aus leicht bedecktem Himmel, versetzt das Wasser aber wundersamer Weise nicht in Bewegung. Ini beschließt Langhosentag.

Dienstag.15.8.
Das mit der Wasserbewegung kriegen wir erst spät in der Nacht, genauer gesagt, gegen Morgen hin, als Aenne schon in Blickkontakt mit der italienischen Küste dahindampft. Im Licht des Halbmondes sind kräftige Wellen zu erahnen, die uns schräg entgegenkommen und schaukeln lassen. So pennen wir ob der Fremdbestimmtheit unserer Körper arg löchrig, und dazu kommt die Kleinkindaufregung: La Spezia ist der letzte „richtige“ Hafen vor Australien.
Wir landen dort mit Verspätung und kommen auch später als erwartet, nämlich um 11 Uhr, von Bord, da man es hier italienisch angehen lässt: Die Hafenautoritäten lassen sich Zeit. Auch hier werden wir per Auto zum Eingangstor gebracht, obwohl das Containerterminal, verglichen mit Hamburg oder Rotterdam, niedlich klein ist. Von der Pforte aus liegt  die Stadt in Fußgängerentfernung, und wir machen uns erwartungsvoll auf die Tevas, um große Pläne zu verwirklichen, suchen wir doch einen Hot Spot und leichte Pullover, die wir zu Hause vergessen haben, und ein paar Flaschen guten Weines und nicht zuletzt einen großen Hieb Klopapier, da Sani uns mit seiner restriktiven Distributionspraxis misstrauisch gemacht hat: Gibt es etwa nicht genug davon auf dem Kahn?
Unsere ehrgeizigen Projects lösen sich weitgehend in Nichts auf, denn die Stadt ist zu, völlig zu, verriegelt und  verrammelt. 15. August - da war doch was? Richtig, seit 1956 fährt Maria an diesem Tag alle Jahre wieder dogmatisch gen Himmel, aber nicht deshalb, sondern wegen der angeblichen Mitte des Sommers macht der Italiener als solcher in diesen Tagen dicht. Wir lassen uns die Laune nicht verderben und fuzzen genießerisch - hmm, mal wieder laufen! - durch die ruhige und übrigens ganz hübsche Stadt. Am Bahnhof fahren wir nicht nach Cinque Terre, sondern vergewissern uns nur, dass wir keine wichtige Post haben. Stattdessen verführt Kay Ini zum Lunch in ein ziemlich stenziges und keineswegs billiges Lokal mit dem Namen „Il Ristorantino di Bayon“, der Programm ist: Es ist klein, und es ist spezialisiert auf Meeresfrüchte und Fische. Wir gönnen uns das Menü und Kay sich noch einen Gang drauf, und dazu mundet eine Flasche leichten trockenen Weißweines aus der Gegend.
Glücklich abgefüllt ersteigen wir zu Verdauungs- und Sightseeing-Zwecken ein paar höhere Quartiere der Stadt, bevor wir am Hafen entlang wieder den Weg nach Hause suchen.
Aenne ist noch längst nicht abgefertigt - eine Kiste nach der anderen verschwindet irgendwo oder wird hochgestapelt, dazu kommen Sonderlasten wie Maschinen oder merkwürdige Holzkisten mit dem Glas-Symbol - sollten unsere Weinprobleme für den Rest der Fahrt erledigt sein, wenn wir hier ein bisschen bohrend tätig werden? Erst um 11 Uhr, also schon in finsterer Nacht, legen wir ab und lassen die Glitzerlichter der Küstenhügel allmählich hinter uns.

Exkurs: El Capitan über Ägypten
In Damietta laufen wir eher symbolisch ein und tauschen ein paar Container, weil die Suez-Passage dann billiger wird
Der Preis richtet sich nach Art des Ladegeschirrs und Anzahl von Gütern mit Übergröße
Alkohol ist verboten, da er gegen die religiösen Bräuche verstößt
Die Beamten, die an Bord kommen, wollen alles und alle kontrollieren - dazu bringen sie Geigerzähler (kaputt), Schnüffelgeräte etc. mit. Vielleicht lässt sich ja ein „Verstoß“ bei Ladung, Deklaration und Mannschaftspapieren finden. Je mehr Verstöße, desto besser, denn letzten Endes geht es nur um die Höhe der notwendigen Bestechung.
Grundwährung des Bakschischs sind Zigaretten. 3 Stangen kostet ein gut deklariertes und dokumentiertes Schiff, bei dem alle Papiere in Ordnung sind. Extras - ein paar übergroße, übersehene Frachtstücke, ein nicht auftauchender Kran, unvollständige Papiere kosten extra.
Der Gesamtpreis ist Verhandlungssache
Jüngere Hafenoffiziere ziehen Lebensmittel den Zigaretten vor.

Mittwoch, 16.8.
„Lust auf Frühstück?“ Kay weckt Ini so um 8 Uhr, es ist also höchste Zeit. Ja, Lust auf Frühstück, denn gestern Abend haben wir auf das Dinner verzichtet. So beginnt wieder ein „normaler“ Seetag, der neben strahlendem Wetter und scharfem Wind aber auch noch einige Extraüberraschungen bereithält: Mittags sehen wir zu unserer Linken Land, von dem Ini frech behauptet, es handle sich um Capri und Ischia, und gen Sonnenuntergang fahren wir ganz nahe am Stromboli vorbei, der kontinuierlich unappetitliche Dinge ausstößt und gelegentlich sogar aushustet. Zwei Stunden später fahren wir dann durch die Straße von Messina, und endlich wird die Geschichte von Scylla und Charybdis mal anschaulich: Uns war nicht klar, dass diese Meerenge sooo eng ist, und schon gar nicht wussten wir, dass das Wasser zwei Großstädte trennt, denn rechts wie links glitzert es wesentlich eindrucksvoller als zum Beispiel in La Spezia. So wird es wieder mal spät, und vor dem Schlafengehen stellt Kay mit Entsetzen fest, dass unsere neu erworbene Flasche Gin schon halb leer ist. Zu unserer Ehrenrettung sei erwähnt, dass auch etliche Dosen Mirinda dran glauben mussten. Wir pennen erst nicht ganz brav und dann wie die Babies.

Donnerstag, 17.8.
Ini hat nen kleinen Snupfen, aber Murkelcommander ist natürlich sofort auf dem Posten, und bei DEM Galawetter wird er sich nicht lange halten können - der Himmel ist blau, und das Meer ist so blau, dass die himmlischen Heerscharen ihren gesamten Tuschkastenvorrat an Aquamarinblau reingekippt haben müssen. Draußen ist also gut sein.
Ini fault vorschriftsmäßig rum, Kay geht viel spazieren und sportet ein bisschen, Jenni hat endlich mit Kays Hilfe einen Deckstuhl gefunden und liest vermutlich, und Victoria ist schmollend verschwunden und hiberniert - ist schon manchmal schwierig im sozialen Mikroklima eines Arbeitsschiffes!
Am Abend ereilt uns noch eine überraschende Einladung in den Salon zum Plaudern und zu Drinks, auf die Ini dankend verzichtet - es ist besser, sich zu pflegen. Kay dagegen lässt sich auf aufregende Gespräche ein, von denen er noch mitten in der Nacht erzählt. Es ist später, als es ist, nämlich eins, denn zum ersten Mal auf dieser Reise ist die Uhr um eine Stunde vorgestellt worden.

Freitag, 18.8.
Trotzdem wachen wir früh auf, genauer gesagt Ini, und wandeln zum Frühstück, bei dem wir erwartungsgemäß ganz allein sind. Anschließend entführen wir die seltene Zeitung aus dem eiskalten Salon in die warme Luftbadewanne draußen - es gibt nichts wirklich Neues. So kann  Kay beruhigt gleich weiter pennen. Sani kommt zum täglichen Putzen und verkneift sich jeden Kommentar, als er hört, dass wir nichts für den Bond Store haben - das Bier haben wir ausgesoffen, und den Gin hat Kay gestern Abend zur Geselligkeit mitgenommen. So werden die bösen Ägypter nichts bei uns finden.
Den Nachmittag verbringen wir lesend und dösend in der tropischen Luftbadewanne unterbrochen von einer Ini-Fotosafari. Zur Dinnerverdauung wandeln wir noch einmal gemeinsam aufs Vorschiff, und da wir keine Kamera(s) dabei haben, bekommen wir eine Galavorstellung von vier Delphin-Primaballerinas geboten, die sich nacheinander einfinden, vor dem Bug herumflitzen und immer wieder eindrucksvolle Sprünge darbieten, bis sie nach ein paar Minuten, wieder eine nach der anderen, unvermittelt abdrehen. DAS war schön!
Wann wir uns tatsächlich nach Damiette hereinschleichen, wissen wir nicht genau, denn es ist mitten in der Nacht, und vorher haben wir lange antriebslos auf dem ruhigen Meer herumgeschaukelt, weil der „kleine“ Hafen blockiert war. So klein ist er übrigens gar nicht, aber von den großen Pötten unserer Klasse können nur zwei gleichzeitig an den Anleger, wie wir am nächsten Morgen sehen, als wir aus dem Fenster blinzeln.

Samstag, 19.8.
„Wir landen an und unterziehen uns den Scherereien, die die Kinder Ägyptens den Ankommenden auferlegen und die lange währen.“ (Thomas Mann, Joseph in Ägypten)

Um 1400 vuZ war allerdings von Bestechung noch keine Rede, aber damals standen die Odds auch anders - wer rein wollte in das Land, das ein Geschenk des Nils ist, war der arme Bettler, der an die Festungstüren einer stolzen Hochkultur klopfte. Wir wissen (noch) nicht, wie viele Stangen Zigaretten heute Nacht  über den Tisch des Schiffsbüros gegangen sind, denn wir haben trotz des Hafenlärms gut gepennt. Allerdings findet Kay, dass Ini viel zu früh wach ist, lässt sich aber doch zum Frühstück und hinterher auf unser Aussichtsdeck verleiten, von dem aus sich ein Containerterminal darbietet - ein bisschen abgeliebter als die bisherigen, deutlich heißer, mit anderer Farbendominanz als in Hamburg, Rotterdam oder La Spezia - das Lichtgrün trägt, anders als erwartet, nicht die Aufschrift „Allah hu akbar“, sondern „China Shipping“ - aber eben doch unverkennbar ein Containerterminal. 
Wir liegen hier bis kurz nach Mittag, und dann schieben wir uns an unserer Vorderfrau, die noch eine Ecke größer ist als wir, nordwärts aus dem Hafen hinaus, wieder vorbei an den - oder anderen - Schiffen, die wir gestern Abend schon gesehen haben. Schleichfahrt ist angesagt, Stillstand sogar, aber unfreiwillig - unser Diesel verträgt sich gerade nicht mit seiner Peripherie, oder umgekehrt. Jedenfalls ist der Captain sauer - es geht darum, den heutigen Konvoi noch zu erwischen oder nicht, und der Chief mit allen Unterchiefs und Elektrikern kriecht in alle Ecken. Unter heftigem Geruße nehmen wir langsam wieder Fahrt auf und haben so Zeit, den „Stau“ vor Port Said geruhsam zu bewundern. Großes und Kleines, Containerhaltiges, Öliges und Stückgutiges liegt hier auf Reede und wartet darauf, starten zu dürfen. Da wir wegen unserer Maschinenprobleme zu den Spätankömmlingen gehören, müssen wir weiter fahren als die anderen, nämlich in den Hafen, wo man die Aenne an betonöse Mooring-Poller legt. Aber wer ist man? Ein fettes Boot und an die fünf kleine Bötchen drängeln sich an unsere Seite und einander beiseite, ohne dass erkennbar ist, was sie eigentlich wollen. Wahrscheinlich ist nach den Gesetzen des Suez-Kanals eine Bordberührung mit uns schon eine Stange Zigaretten wert…
Port Said zeigt uns zum Schlafengehen eine eindrucksvoll beleuchtete Hafenfront. Wie man weiß, liebt es der Araber bunt, und so ist die Stadt grün und orange hell beleuchtet. Da auch wir unser Lichtgewand angetan haben, ziehen wir es vor, die Vorhänge zum Pennen zuzuziehen.

Sonntag, 20.8.
Um halb fünf wird Ini wach und stellt fest, dass wir längs einer gut beleuchteten belgischen Autobahn, allerdings einer mit Linksverkehr, unterwegs sind. Wir gehören also trotz unserer späten Ankunft zum ersten Konvoi, dem, der um drei Uhr früh in der Dunkelheit gestartet ist. 
Auch als es hell geworden ist, ist vom Kanal und seiner Wüstenbegleitung wenig zu sehen, denn dichter Dunst hängt über allem, und die zahlreichen Schiffe gleichen Nebelgespenstern. Erst nach der langen Mittagspause, die wir im Bittersee verdümpeln, um den Gegenverkehr vorbeizulassen, wird die Suppe dünner und die Sicht entsprechend besser. Deshalb zieht es uns nach draußen, aber Millionen dreister Fliegen geht es leider ebenso, und die Tausende Libellen sind zwar wunderschön anzusehen, gegen die Kitzelplage aber machtlos. Trotzdem drücken wir uns unverdrossen stundenlang auf der Nock und der Brücke herum - wann fährt mensch schon mal durch den Suezkanal und hat Gelegenheit, gleich zwei ägyptischen Piloten, einem dicken und einem dünnen, beim Pilotieren und auch beim Beten zuzugucken? 

Gegen Abend sind wir in Suez, die Herren Piloten und auch die anderen, die bestimmt versucht haben, uns was zu verkaufen, und vermutlich auch, uns was zu klauen, gehen von Bord. Bevor wir unseren Ergänzungssprit bekommen, gibt es auf unserem Sonnendeck ein unverhofftes Chief-Bier - die Offiziere sind sichtlich froh, den schwierigsten Teil der Reise hinter sich zu haben.

Montag, 21.8.
Wegen der anstrengenden letzten Tage spielt der Großteil der Schiffsbesatzung heute Sonntag, aber für uns ist es ein ganz normaler, heißer und ausnahmsweise mal klarer Tag auf See - Käsekuchen war gestern. Immerhin  ist auch das Alkoholverbot vorbei, und Sunny beliefert uns mit Bier, Gin und Mirinda in solchen Mengen, dass unser armer Kühlschrank ordentlich ächzen muss. Wir ächzen auch, hat doch der Stein von Rosette so schwierige Dinge wie das Imperfekt für uns vorgesehen.
Im übrigen lesen und schreiben wir (Ini) und fangen an, die gar nicht mal kleinen Mengen von Film-Rohmaterial, die sich inzwischen angesammelt haben, zu bearbeiten (Kay). Es bleibt trotz allen Fleißes immer noch genug Zeit, um das Meer in aller seiner Wandlungsfähigkeit zu bewundern. 
Übrigens haben wir heute Abend die ersten fliegenden Fische unseres Lebens gesichtet.

Dienstag, 22.8.
Gestern kaum vorstellbar, aber heute wahr: Es kann tatsächlich immer noch heißer werden! Das Wasser unter uns hat eine Temperatur von 34°C und die Luft noch mehr. Tagsüber ist es fast klar, aber am späten Nachmittag verdickt sich der Dunst und produziert einen Himmel, der Norddeutschland im November alle Ehre machte. Und wer kommt uns in der Suppe entgegen und kollidiert fast mit uns? Alexandra! Kaum zu glauben, dass wir uns irgendwann später für die Heimreise einem so winzigen Schiff anvertrauen sollen, hihi!
Der Schiffspool ist wieder gefüllt, aber nach genauerem Studium des Wasserspenders beschließen wir, Kay da nicht reinzulassen - Ini will wegen des hohen Salzgehaltes und der empfindlichen Äuglein eh nicht. Das Rote Meer macht einen ganz schön pekigen Eindruck, und die kleinen Bläschen, die verdächtig lange brauchen, um sich aufzulösen, geben zu denken. Wahrscheinlich lassen alle Anrainer alles, was sie nicht brauchen können, in das arme Gewässer ab.
Wir trösten uns damit, das Fortkommen auf der Brücke zu verfolgen - Dschidda und damit Mekka sind passiert. Es ist faszinierend und irritierend zugleich, wie schnell wir reisen: Heute haben wir den Wendekreis des Krebses passiert, und täglich kommen bei strammem Südkurs gute sechs Breitengrade dazu - oder, korrekter, werden abgezogen. It‘s a small world, sogar wenn man sich mit Tour-de-France-Geschwindigkeit bewegt. Auch bieten die Seeschwalben, die auf einmal in Horde auftauchen und uns ihre Flugkünste zeigen, einen erfreulichen Anblick, und abends ist Fête angesagt: Der Master lädt auf dem F-Deck zum Grillen. Berge rumänischen Çevapçicis werden gebraten und verschwinden im Laufe der Zeit tatsächlich zum großen Teil - sind auch wirklich lecker, die Würstchen. Das Futter wird von zahllosen Bieren und ernsthaften Gesprächen über den Sinn bzw, Unsinn der Mitnahme von Passagieren auf Frachtschiffen, insbesondere einsamer Frauen im sexuell aktiven Alter, begleitet. 

Mittwoch, 23.8.
Nach den Exzessen der gestrigen Nacht verzichten wir heute auf das Frühstück und schlafen genüsslich aus. Zum Wachwerden reicht der Vormittagskaffee.
Der Gang nach draußen ist wie eine heiße Backpfeife - das Rote Meer macht uns je südlich desto warm, und es zeigt uns im Laufe des Tages auch, warum es seinen Namen bekommen hat - streckenweise ist das Wasser algenbedingt wirklich so rot wie der Colorado nach einem ordentlichen Regen. Wir gucken nach vorne, Kay hat sich zunehmend in die Brücke verliebt, und Ini liest fleißig und schaut nebenbei das Wasser an - es passiert also wieder mal nichts und ist doch kurzweilig. Etwas anderes passiert auch nicht, und das ist gut so: Kein Kontakt mit Victoria. Ein bisschen Zeit, sich von Kays offenen Worten zu erholen, kann sicher nicht schaden.
Uns passiert also nichts, aber wir passieren einiges - unbewohnte Inseln und schließlich das Bab el Mandeb, die Meerenge, die das Rote Meer mit dem Indischen Ozean verbindet. Wir ändern die Richtung und gehen ostwärts, möglichst weit weg von der somalischen, der Piratenküste.

Donnerstag, 24.8.
Um Mitternacht ist die Uhr wieder um eine Stunde vorgestellt worden, zum zweiten Mal auf dieser Reise. Es ist keine Nacht wie die anderen auf See: Alle Türen sind verriegelt, als lägen wir im Hafen, und auf dem Hauptdeck ist die Verteidigung in Form von Extrascheinwerfern und Wasserwerfern aufgebaut. Zusätzliche Wachen sind eingeteilt, und die puppigen Besatzungsmitglieder werden an die Reling gebunden und verstärken die lebenden. Aber welche Lebenden? Nach Aussage des Ersten verkriechen sich die Filipinos in eine Kammer - nota bene: in eine - und beten und sind ums Verrecken nicht dazu zu bewegen, ihren Arsch zu Verteidigungszwecken nach draußen zu bewegen. Also wird Ini die Tapfere im Zweifelsfalle leere, von der vorgestrigen Party noch nicht abgeräumte Bierflaschen auf böse Seeräuber werfen.
Der Zweifelsfall bleibt zum Glück aus - am Horn von Afrika scheint die Präsenz „unserer Jungs“ tatsächlich etwas zu bewirken. Oder hat gar die Bordzeitung der letzten Woche recht, die da eine Verlautbarung der somalischen muslimischen Warlords, die Mogadischu kontrollieren oder vor einer Woche kontrollierten, wiedergab, des Inhalts, das Piratenkaff an der Küste sei jetzt unter Kontrolle, und die Bewohner würden sich wieder den friedlichen Beschäftigungen des Fischens und Ackerbauens hingeben?
Den ganzen Tag lang fahren wir nach Ost-Nordost, deutlich schaukelnd in recht glatter See.

Freitag, 25. 8.
Das mit der glatten See hat sich am Morgen qualitativ deutlich geändert, das mit dem Schaukeln quantitativ auch. Immerhin sind wir des Nachts nicht übereinander gerollt, aber für wenig flachen Schlaf und Träume zum Beispiel von wilden Autofahrten hat das Stampfen und Rollen gereicht. Kay steigt schon morgens um sechs auf die Brücke, um zu gucken, ob die wilden Bewegungen vielleicht doch der Flucht vor den Piraten geschuldet ist, aber von denen hat sich keiner blicken lassen. Die Aenne ist aber auch vorsichtig: Alle Schiffe, die in Richtung Osten, also Indien und vor allem China, unterwegs sind, halten sich deutlich weiter südlich als wir, dampfen also recht nahe an der somalischen Küste lang.
Die skeptischen Momente der Nacht - Werden wir nun seekrank oder nicht? - lösen sich tagsüber in Wohlgefallen auf. Es ist ein bisschen schwierig, das Gleichgewicht zu halten, also nicht mit dem Stuhl durch die Messe zu rutschen und nicht in die frisch gestrichenen Türen reinzurasseln, aber unserem Appetit tun die wilden Bewegungen keinen Abbruch, zur Beruhigung des Kapitäns, der sich telefonisch nach unserem Wohlergehen erkundigt.
Abends ziehen wir uns den „Aviator“ rein, eine im Bild gute, aber in Bezug auf Tonqualität und englische Untertitel grottenschlechte chinesische Raubkopie, in der Leonardo di Caprio Howard Hughes recht überzeugend, aber ewig jung bleibend gibt.

Samstag, 26.8.
Und schon wieder sind die Uhren eine Stunde vorgestellt, auf Malediven- bzw. Jekaterinenburgzeit. Die Superstructure wird von oben nach unten von den Spuren der gestrigen wind- und wellcnbedingten Salzattacke gereinigt, auf dem Hauptdeck halten sich diese aber bis in den Abend hinein.
Am Vormittag können, wir, anders als gestern, auch wieder nach vorne, und hinten fotografiert Kay gekonnt gefrorenes Wasser.
Am Nachmittag erwischt uns nach etlichen  Fehlalarmen ein wirklicher, der uns erst im Rettungsboot alle zu Sardinen macht und Ini dann dank des Kaltwasser-Ganzkörperanzugs, der mit Brillen nicht koexistieren kann, eine Panikattacke beschert.

Sonntag, 27.8.
Obwohl wir noch gar nicht am Äquator sind, werden wir am späten Vormittag aufs Achterdeck zitiert - Taufe ist angesagt. Nicht nur wir vier Passagiere sind die Opfer, sondern ebenso viele Besatzungsmitglieder müssen dran glauben. Der Chief Mate macht, assistiert vom Zweiten, den Poseidon und sorgt dafür, dass die Delinquenten zuerst ordentlich mit diversen Scheußlichkeiten wie Maschinenöl und Honig eingeschmiert und, nachdem sie neue Namen erhalten haben, stilvoll mit Meerwasser nicht sauber-, wohl aber abgespritzt werden. Photos dieses sensationellen Ereignisses existieren leider nicht, da der Chief lauter unbrauchbare Gegenlichtaufnahmen produziert. Auch die in der Ferne springenden Delfine halten sich zu weit entfernt, als dass sie dokumentiert werden könnten.
Zur Feier des Ereignisses gibt es Bier und Sandwiches, wobei das Bier am frühen Morgen für die Crew eine heftige Herausforderung zu sein scheint, denn sie beginnt zu singen und mag damit gar nicht wieder aufhören. Jenni und Victoria machen dabei kräftig mit, wir dagegen genießen lieber die Sonntagsruhe auf dem Schiff und die damit verbundenen Möglichkeiten, überall dort rumzuturnen, wo wir an Wochentagen arbeitende Menschen stören würden, also zum Beispiel unten im Schiffsbauch oder im Schiffsbüro mit seinen faszinierend altmodischen Armaturen.
Auch versuchen wir, fliegende Fische zu filmen, aber es ist wie mit allen Tieren auf der Welt: Sie zeigen sich stets und ausschließlich dann, wenn die Kameras ausgeschaltet sind, andernfalls verlangen sie Dreifuffzig und berufen sich bei dieser Forderung schamlos auf Tussi. So ziehen wir uns an unseren Privatstrand zurück, lassen links die Malediven und rechts die Seychellen liegen und genießen das preiswerte Bier aus der Minibar.
Abends ist Tauf-Nachklapp im Salon angesagt, gepflegtes Feiern - na ja - für Passagiere und Offiziere. Angesagt ist es - aber es findet nicht statt, und so richtig weiß niemand, warum. Vermutlich grumpft der Kapitän. Jedenfalls kriegen wir keine Äquator-Taufdokumente, und der von uns wohl gefüllte Kühlschrank im Salon wird, zunächst jedenfalls, nur wenig leerer - drei einsame Männer trinken zu den Karibik-Piraten ein Bier.

Montag, 28.8.
Jetzt sind wir Deutschland vier Stunden voraus, zeitlich jedenfalls, und das bedeutet, dass wir uns im temporalen Niemandsland bewegen, denn unsere Schiffszeit gibt es nur auf der Aenne, auch nicht in der ehemals großen ruhmreichen; dort springt man mangels großer Städte ostwärts gleich um zwei Stunden.
Das Wetter ist sehr feucht tropisch, ein energischer Schauer löst den anderen ab und „regnet direkt auf dem Wasser“, wie Ini weise feststellt. Kay nutzt die Gelegenheit zu einem Mittagsschlaf - auch nach drei Wochen sind wir auf diesem Dampfer immer noch permanent müde. Heute ist es besonders wichtig, sich fit zu schlafen, denn dem Kapitän ist nun, wie er sagt, endgültig der Kragen geplatzt, und es wird, abgesehen vom heutigen Abend, an dem der Zweite seinen Geburtstag feiert, keine gesellschaftlichen Ereignisse mehr geben. Mal sehen, ob er durchhält, die alte Partydrossel, aber in Anbetracht des Benehmens von Victoria und Jenni nach der Taufe, das Ini nur in Form eines Videoclips und wir beide akustisch mitbekommen haben, ist die Entscheidung mehr als verständlich.
Heute Abend nun also Geburtstagsfeier in „entspannter“ Atmosphäre - das kann ja heiter werden! Es wird nicht wirklich, wohl aber dank wenig zurückhaltenden Genusses von überwiegend Whisky allmählich lockerer. Kay ist Hahn im Kapitänskorb und bekommt einige gar nicht mal so schlechte Witze erzählt (Jemand will nach Australien einreisen. Er sieht ein bisschen freakig aus und macht die Grenzer so misstrauisch. Sie fragen: „Sind Sie vorbestraft?“ Antwort: „Nein, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass man das immer noch sein muss.“). Aber bezeichnend ist, dass der Kapitänsmann sie nur dem Passagiermann erzählt und eben nicht der Passagierfrau, wie auch die Nachfrage nach den Photos von der Aenne, die Kay dem Zweiten gegeben hat, sich selbstverständlich an ihn richtet - völlig undenkbar, dass eine Frau fotografieren können sollte. Zu peinliche Schweigephasen werden dadurch überbrückt, dass die Offiziere anfangen, miteinander rumänisch zu reden - auch nicht gerade ein Zeichen übermäßig ausgeprägter höflicher Umgangsformen. So hat Ini viel Zeit zum Gucken und sich amüsieren. Jenni ist erkennbar müde, Victoria wird weitgehend ignoriert, und es zeigt sich deutlich, dass die Offiziere eigentlich nichts miteinander zu tun haben oder zu tun haben wollen - wie sollten sie auch? Sie sind in Tilbury  zusammengewürfelt worden, und niemand hat sie gefragt, ob es ihnen recht ist. Um Mitternacht verschwindet der Kapitän auf die Brücke - sein Geburtstagsgeschenk für den Zweiten, der eigentlich für die Hundewache zuständig ist. Wir halten zu unserem eigenen Erstaunen noch bis ein Uhr durch...

Dienstag, 29.8.
...und pennen zum Ausgleich fast bis 11. „Onkel“ Ramses hat den Himmel wieder blauweiß gepustet und das Wasser dunkelblau angemalt und mit weißen Krönchen versehen, so dass wir erst mal ausgiebige Film- und Fotogänge machen müssen, bevor wir beim Lunch endlich unsere Taufurkunden  auf unseren Plätzen finden. Es bläst eine äußerst steife Brise, und Aenne wird dadurch merklich bewegt, ohne dass uns das stört - unsere Körper scheinen sich überraschend schnell an fremdbestimmte erratische Bewegungen zu gewöhnen.
Besondere Ereignisse des Tages:
Beim Spanischlernen sind wir nach den ersten acht Lektionen in eine Wiederholungsphase eingetreten.
Der Koch hat heute einen Negativrekord aufgestellt: Nach ultrazähem Rinderbraten zum Lunch gab es völlig ungenießbare Ente zum Dinner. Ini hat schon angekündigt, dass der gute Mann von uns kein Trinkgeld zu gewärtigen haben wird, und Kay hat fast gar nicht widersprochen.
Da wir in Rotterdam 5€ dafür bezahlt haben, gucken wir uns tapfer „Feeling Minnesota“ von Anfang bis zum Ende an, obwohl wir immer stärker das Gefühl bekommen, dass wir dieses Minnesota-Gefühl nicht bekommen müssen.

Mittwoch, 30.8.
Wieder hat man uns eine Stunde geklaut, so dass wir jetzt bei vietnamesischer Zeit angekommen sind. Ohne allzu viel Mitleid mit den niedersächsischen Kolleginnen und Kollegen, die heute zur DIB in der Schule, oder, wie in Kays Laden, im Landheim anzutanzen haben, widmen wir uns einem opulenten Vorsorgefrühstück nach dem Motto: Man kann ja nie wissen, was der Koch heute versaubeuteln wird. Wir lernen anschließend ganz viele spanische Fragen, von denen wir uns auf erprobte Art erst mal erholen müssen.
Die heutigen Spaziergänge machen einen respektvollen Bogen um das Vorschiff und erst recht um unseren Nelson-Hornblower-Ausguck: Windig ist es. Kay spricht schon vorwitzig von den Roaring Forties, aber Ini die Skeptische zieht es vor, das gegenwärtige Wetter vorsichtig als „breezy“ zu bezeichnen - man kann ja nie wissen, sagte ein in Hannover nicht ganz unbekannter Herr, dessen Grab wir jetzt schon vier oder gar fünf Wochen lang nicht besucht haben.
So sind wir weitgehend häuslich - Kay hat eh einen Sonnenbrandkopf und muss außerdem die mehr oder minder exotischen Musikwünsche der Offiziere, die mitbekommen haben, welche Schätze sich auf unserem I-Pod befinden, befriedigen. Ini legt sich bewusst ungeschmiert in die Sonne in der Hoffnung, dass das gegen merkwürdige Hautjuckepickel hilft. Ist destilliertes Duschwasser etwa nicht gut für die zarte Haut der gnädigen Frau? Oder bekommt das Zahnputzwasser, das nach Eisen schmeckt, dem empfindlichen Metabolismus nicht? Wie dem auch sei, die Haut ist genervt und nervt, und das hat vermutlich etwas mit Stoffen zu tun, die sie nicht mag.
Damit wären wir bei unverträglichen Stoffen. Verblüffend, was nach menschlichem internationalem Beschluss für das Meer er- und verträglich ist. Die Plakate, was wo „weggeworfen“ werden darf und was nicht, hängen überall rum und sind wohl als Warnung gedacht, dem Leser von Schätzings „Schwarm“ und dem Angehörigen eines Müll trennenden hannoverschen Haushalts erscheinen sie dagegen eher als Hohn.
Weil doch heute Ferienende ist, brechen wir am Abend der einzigen Flasche Sekt dieser Seereise den Hals, was uns erfreut und ob des ungewohnten Genusses zumindest Ini anschickert, den zweiten in Rotterdam erworbenen Film (Lost in Translation) aber nicht wesentlich verbessert.

Donnerstag, 31.8.
Schönes Wetter haben wir, sagt der Erste: Weit vor uns ist ein Sturm, weit hinter uns auch, und wir dazwischen haben unsere Ruhe. Da aber alles relativ ist, auch die Ruhe, wackeln wir kräftig, und die Wellenberge und -täler sind ausgeprägter denn je. Weil wir aus unerfindlichen Gründen - na ja - viel zu wenig Schlaf bekommen haben, verpennen wir den Vormittag zum Teil und gehen nicht zur Schule - Schande über uns! Übrigens ist unvermittelt wieder Langhosenwetter, und das zwischen dem 15. und 20. Breitengrad, aber eben auf der Winterhälfte unserer winzigen Kugel. Die Erde schrumpft subjektiv wirklich, vor allem, wenn wir in Nord-Süd-Richtung fahren; die Klimazonen rasen geradezu vorbei.
Übrigens erzählt der Captain Kay am Nachmittag deutlich andere Dinge, nämlich von einem vor uns liegenden statiönären Riesenhoch, dessen Windschleppe uns direkt ins Gesicht faucht, von Aldischiffen allgemein, die das Stampfen nicht vertragen und leicht leck schlagen, und von Aenne speziell, die nach nur acht Lebensjahren schon in einem bedenklichen Rostzustand ist, vom Swell, der sich bei konstantem, auch moderatem Wind zu ungeahnter Stärke aufbaut, und schließlich vom energischen Rollen eines Schiffes, das den den Menschen nicht, der Stahlkonstruktion dagegen aber gut bekommt. Da der Dicke sich zudem auf der Brücke häuslich einrichtet, hält Ini das Ganze nicht für eine von Kays üblichen Übertreibungen, sondern tatsächlich für eine ernste Situation und kriegt ordentlich Schiss, der auch mit Händchenhalten und schlechten Science-Fiction-Filmen (Heinlein schickt die parasitären Aliens nach Iowa, aber leider wollen die dort nicht bleiben, sondern die Welt erobern) nur unzureichend zu bekämpfen ist. Selbst Murkels Kurztelefonat mit Tussi, die ihr beruhigendes „Okay“ gibt, kann nur in Grenzen beruhigen. Auch Ramses geht es gar nicht gut, er will sogar Sepukko begehen, weil er doch an dem dummen Hoch Schuld ist, und bisher waren Hochs immer gut…
Richtig eindrucksvoll wird aber erst die Nacht. Ohne optische Kontrolle empfindet das Augentier Mensch häufig alles als schlimmer und heftiger, als es ist, und so geht es uns wohl auch. Auch Überraschungsmomente kommen dazu - wir hatten uns ein 200-Meter-Schiff bei Seegang anders vorgestellt, eher jumbomäßig, jedenfalls majestätisch und, größenbedingt, mit gewisser Verzögerung reagierend. Stattdessen kassiert Aenne Wellenbackpfeifen wie eine x-beliebige Nussschale, und wenn sie sich von den Schlägen zu erholen versucht, stöhnt sie regelrecht, es klingt wie das entfernte Muhen einer Kuh.
Richtig erkannt - wer das nächtliche Leiden eines stählernen Monsters so gut zu beschreiben vermag, der hat wenig geschlafen. Am Morgen haben wir ziemlich kleine Augen und fragen uns, was es wohl zu bedeuten hat, dass ausgerechnet mit Schulbeginn das Wetter schlecht wird…

Freitag, 1.9.
Heute ist in Australien der erste Frühlingstag! Auf der Aenne, die den Wendekreis des Steinbocks passiert, ist das Wetter ebenfalls frühlingshaft, das heißt, eine scharfe Brise weht, das Meer ist agitiert, wir stampfen - also alles wie gestern -, und es wird kälter - der Elektriker trägt schon seine Daunenjacke. Wir versuchen, das fehlende Spanisch des gestrigen Tages und den fehlenden Schlaf der letzten Nacht nachzuholen und bei alldem heiter zu gucken - unser übliches Rumturmen auf dem Schiff entfällt gerade, denn wir wollen uns nicht über Bord spülen oder uns die Knochen brechen lassen. Also ist Zeit genug, sich einen langen Film reinzuziehen - „Schindlers List“ ist nicht nur englisch synchronisiert, sondern auch noch mit chinesischen Zwischen- und indonesischen Untertiteln ausgestattet. Danach pennen wir auf einem wesentlich sanfter schaukelnden Schiff mal wider hervorragend, wenn auch künstlich verkürzt - um Mitternacht werden die Uhren auf die Zeit von Ulan Bator, Hongkong und Shanghai, aber auch Perth umgestellt.

Samstag, 2.9.
Heute sind fast schon wieder ernsthafte Ausflüge möglich, bei denen man die Arbeit der Crew bewundern kann. Unseren Vorurteilen entsprechend ist sie - mit Ausnahme des bemitleidenswerten seekranken Chinesen - mit Rostklopfen und Streichen beschäftigt, mal flächendeckend, häufiger fleckig. Das Rostklopfen hat übrigens mit „Klopfen“ herzlich wenig zu tun, Helferlein dafür sind monströse Schlaghämmer, nach deren stundenlangem Gebrauch einem vermutlich die Hände von den Gelenken fallen.
Flische entdecken wir heute nur noch in Form eines toten Exemplars an Deck, zum Ausgleich aber einen lebendigen eleganten Seevogel - 400 Meilen von der Küste entfernt alles andere als selbstverständlich. Der Himmel ist übrigens blau bis bewölkt, und für den Aufenthalt im Freien sind Fleecejacken dringend zu empfehlen.
Abgesehen von dergleichen aufregenden Exkursionen macht Kay ganz viel Film weiter, alles andere als tonlos, aber noch ohne passenden Ton, und Ini schmökert sich dem Ende der Josefsromane entgegen.

Sonntag, 3.9.
Wir fahren immer noch geradeaus, jedenfalls zunächst. Der Meer ist glatt, der Wind flaut zunächst ab, nimmt dann aber wieder zu, und mit ihm die Dünung. Das gibt uns mit gebotener Vorsicht mal wieder Gelegenheit zu einem Ausflug aufs Vordeck, von dem aus sich auch heute wieder elegante Vögel bewundern lassen. Kay unternimmt nebenbei die Lebensberatung des Kapitäns, bildet sich über rumänisches Dorfleben und bestätigt die Existenz einiger Kilo Leberkäse im Tiefkühlraum, während Ini, ebenfalls nebenbei, Kulles soziologisches Diktat aufnimmt.
Am Abend erwarten wir den spannenden Moment, in dem nach tagelanger sturer Geradeausfahrt - nur einmal sind wir einem in der Einsamkeit des Indischen Ozeans unvermutet entgegenkommenden Schiff um ein paar Grad ausgewichen - die Richtung geändert wird: Dann geht es ab Kap Leeuwen entlang der australischen Südküste, in  respektvoller Entfernung vom Festlandsschelf, nach Osten - Kurs 99°. Von diesem Punkt an wird Aenne nicht mehr energisch nicken, sondern ebenso energisch rollen, und wir mit ihr.

Mittwoch, 6.9.
So schnell kann‘s also gehen, dass der täglichen Tagebuchpflicht nicht Genüge getan wird! Kay hatte nämlich den Ehrgeiz, das Aenne-Rickmers-Filmchen fertigzustellen, damit alle netten und auch die weniger netten Menschen an Bord eine DVD als Erinnerung mitnehmen können, und das hat Alumni sehr lange blockiert und Kay um etliche Stunden Schlaf gebracht, hat er sich doch eine ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um die richtige Wassermusik zu finden und anzupassen. Und alles für die Katz! Nach etlichen Fehlversuchen haben wir endlich eine gebrannte Glitzerscheibe mit vielen schönen bewegten Bildern, aber die haben trotz aller Bemühungen keine Töne.
Wir waren beim Rollen. Tja - angenehm ist das auch nicht gerade, denn unser Schifflein hat keinen Kiel - hätte ja nur unnötig teuren Stahl gekostet, ihm einen zu spendieren - und suhlt sich dem entsprechend in Schaukelbewegungen. Und da das Aennekind deutlich weniger breit als lang ist, rollt sie schneller, als sie stampft. Nein, so nicht ganz richtig: Sie rollt schnell und stampft dabei langsam, denn der „Swell“ kommt von rechts hinten. Uns ist bei alldem zwar immer noch gut, aber dem Schlafen bekommt das Hin und Her und Rauf und Runter keineswegs. Selbst die Profis haben damit ihre Probleme: Die Offiziere legen sich aufs Sofa, weil man sich da, anders als im Bett, festklemmen kann; ob man dabei die Bauch- oder die Rückenlage bevorzugt, ist individuell verschieden.
Die heftige Schiffsbewegung in agitierter See bedeutet heftiges Gegischte, und das heißt, das unsere Bewegungsfreiheit kräftig eingeschränkt ist - auf dem Maindeck kann man baden. Gut, dass wir am Sonntag noch mal spazieren gegangen sind - die malende Crew hat weitere Spuren hinterlassen.
Mit dem Ende aller Parties hat es der Master, wie zu erwarten war, denn doch nicht so ernst genommen. Sein Vorwand für eine weitere Grillparty lautet, dass zumindest das von uns ausgegebene Bier zur Äquatortaufe vernichtet werden müsse. Wie wenig sich die Bilder gleichen, als sich die übliche Combo auf dem F-Deck versammelt! Vor 14 (vierzehn) Tagen haben wir hier vor uns hin gekocht und konnten die kühlschrankkalten Biere gar nicht so schnell trinken, wie sie warm wurden. Heute wird das Bier links liegen gelassen, große Schlucke aus dem Whiskyglas sind wesentlich begehrter. Die Lufttemperatur dürfte bei etwa 10°C liegen, dazu kommt der kalte Fahrtwind - Frühlingsanfang auf der Südhalbkugel am 38. Breitengrad. Allerdings gibt es wie vor zwei Wochen riesige Fleischberge, und wir beide müssen aufpassen, dass wir uns nicht an hervorragend knusprig gebratenem Schweinebauch heillos überfressen. Die Mutter aller Sonnenuntergänge begleitet das Ereignis und wird erfolgreich dokumentiert.
Der Mittwoch ist durch schaukelndes Aufräumen und Packen charakterisiert. Mit dem Schlafen wird es in der nächsten Nacht wohl auch wenig werden: Beim Übergang von der Tiefsee auf den Festlandsschelf - immerhin ein „Sprung“ von ein paar hundert Metern - dürften wir alle ziemlich gut bewegt werden. Laut Plan übernehmen wir Morgen früh den Lotsen und sind am späten Vormittag am Liegeplatz.
Fare thee well, Aenne Rickmers!

Weitere Bilder gibt es hier!
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Hamburg - Australien
Donnerstag, 7. September 2006