Die erste Woche auf See....
 
Man fährt und fährt, die Motoren laufen Tag und Nacht, man hört sie, man spürt sie, man fährt pausenlos, aber nur die Sonne bewegt sich, beziehungsweise der Mond, es könnte auch eine Illusion sein, dass man fährt, unser Kahn kann noch so stampfen und Wellen werfen, Horizont bleibt Horizont, und man bleibt in der Mitte einer Kreisscheibe, wie fixiert, nur die Wellen gleiten davon, ich weiß nicht mit wieviel Knoten in der Stunde, jedenfalls ziemlich schnell, aber es ändert sich überhaupt nichts - nur dass man älter wird!
(Max Frisch, Homo Faber)

Gute zwei Wochen nach Ferienbeginn ist der große Starttag gekommen, aber fahren tun wir noch lange nicht, jedenfalls nicht auf dem Wasser.. Ilse bringt uns und unser Monstergepäck zum Hamburger Hafen, in dem am Burchardkai die Aenne Rickmers liegen soll. Sie liegt tatsächlich, macht aber nicht gerade den Eindruck, ausgerechnet auf uns gewartet zu haben - man be- und entlädt, dass die Kräne quietschen und die Container scheppern. Immerhin schleppen winzige Menschlein unsere Riesentaschen an Bord - peinlich, peinlich!, und einer widmet sich uns für das „Familiarisieren”. Wir werden rumgeführt und dabei auf jeden einzelnen Feuerlöscher hingewiesen, lernen „unser” Rettungsboot kennen - hoffentlich bleibt es bei dieser eher flüchtigen Begegnung - und mit einer Menge Papierkram konfrontiert. Es ist ein bisschen wie auf dem Fluss: Du unterschreibst vorher, dass du tot sein kannst, und in diesem Fall bist du ganz allein daran schuld.
Nachdem wir pflichtschuldigst ein bisschen zu Abend gehapst haben - ganz allein, denn die Offiziere haben zu tun, Tourist Nummer 3 guckt sich vermutlich Hamburg an, und Nummer 4 fehlt noch - sind wir uns selbst überlassen und beobachten von unserer Privatterrasse auf dem F-Deck aus das geschäftige Hafentreiben, bis wir vor dem Krach, der dabei veranstaltet wird, wieder in unsere „Kammer” flüchten. In der und an Bord wird es sich wohl aushalten lassen, ist unser erster Eindruck, obwohl - tja, obwohl wir in völlig fremde Hände gefallen sind, und zwar in andere als erwartet. Die Offiziere sind Rumänen, und die Nationalität der Mannschaft haben wir noch nicht rausgekriegt. Aber Sunny, der Steward mit den Manieren eines gut geschulten französischen Oberkellners, wird’s uns bestimmt verraten.

Dienstag, 8.8.
Die Nacht beginnt so, wie wir uns das dachten, nämlich laut und grell, wird aber plötzlich ruhig - will jetzt etwa keiner mehr weiter laden? Soll das Schiff mit hungrig aufgerissenem Bauch nach Rotterdam dampfen? Es soll nicht - gegen Mitternacht wird unsere Schlafkemenate in grelles Licht getaucht, und es fängt an zu rumsen. Wir ziehen unsere Vorhänge zu und lassen die arme Crew arbeiten. Erst am Morgen bewundern wir die vollbrachte Veränderung: Wir sind zwar noch nicht voll, haben aber stellenweise schon eindrucksvoll hoch gestapelt.
Der Morgen beginnt übrigens mit einem Schrei von Kay: „Ich wusste doch, dass wir schon fahren!” Und das um halb sechs statt, wie angekündigt, erst um 9.00 Uhr. So nimmt Ini die Parade der Elbchaussee-Villen nicht ab, Kay begrüßt allein das Domizil der „reichen” Alberts und kommt schlotternd wieder - kalt ist es draußen. Drinnen auch - Ini ordert für die nächste Nacht eine Zusatzdecke.
Beim Frühstück lernen wir dann unsere Mitpassagiere endlich kennen: Victoria, vielleicht aus Victoria, auf jeden Fall aber aus Australien, extrovertiert, schätzungsweise Mitte 40, weitgereist, wie es scheint, und auf vielen Schiffen zu Hause, und Jenni, ein blondes, ruhiges, gerade mal 20jähriges Skandinavienkind, das Aussiland per Backpack erkunden will. Kann vielleicht nett werden, ist jedenfalls nicht unangenehm.
Mit dem Futtern hier müssen wir aufpassen - es gibt einfach zu viel.  Wir  werden aufgehen wie die Hefekuchen, wenn wir nicht Disziplin walten lassen, zumal Bewegung denn doch kaum möglich ist. Treppauf- und treppab turnen können - und müssen - wir, mal rechts und mal links auf unsere „Privatveranda” tappen - das war’s bisher. Der Pool ist noch leer, aber wenn er voll sein wird, muss man hunderte Bahnen in dem Winzteil schwimmen, wenn es ein bisschen Effekt geben soll.
Wir ziehen in Anbetracht des Schauerwetters der Deutschen Bucht heute überwiegend Häuslichkeit vor und entdecken, dass das gemütliche Brummen und Schaukeln unseres Schiffes sehr müde macht. Kay schiebt ein paar Nickerchen ein, während Ini tapfer die Augen offen hält und beginnt, in den tiefen Brunnen der Vergangenheit einzutauchen. Zwischendurch wird ein bisschen Spanisch gelernt. 

Mittwoch, 9.8.
Mitten am frühen Morgen, es ist jedenfalls noch stockfinster, laufen wir in den Monsterhafen von Rotterdam ein. Das muss Ini sehen, Kay dagegen pennt einfach weiter. Langsam und immer langsamer, zum Schluss mit zentimetergenauer Zärtlichkeit und Sanftheit, wird unser Riesenpott in einem engen Hafenbecken an die Poller gelegt, ohne dass auch nur ein sanftes Ruckeln zu spüren wäre.
Was tun in der großen Stadt? Eigentlich wollen wir da nicht hin, uneigentlich auch nicht; andererseits ist unser Bewegungsdrang schon jetzt groß. Aber Spazierengehen darf man in einem Containerterminal natürlich nicht, auch wenn es „Interforest” heißt - ein wahrhaft unpassender Name. Aber andererseits: Zwischen irgend welchen Wäldern wird das Ding schon liegen... Der „Zweite” will in einem Duty Free einkaufen, zu dem man mit dem Auto gebracht wird - das ist doch immerhin mal eine Abwechslung. Wir schließen uns also an und erleben ein Geschäft mit zollfreien Waren anderer Art als am Flughafen: Zwar gibt es auch hier Alk und Tabak und Stinkewässer, aber eher nebenbei. Wichtig ist, was der Seemann brauchen kann, der lange unterwegs ist, privat oder auch für sein Schiff, auf dem Reparaturbedarf besteht. Immerhin kann man hier ein paar Meter hin und her laufen, eine Möglichkeit, von der wir exzessiv Gebrauch machen, bis wir zum Lunch wieder zu Hause sind - ganz alleine, denn die Crew arbeitet, und unsere beiden Mitpassagierinnen sind in die U-Bahn gehüpft, um Rotterdam zu erobern. Am ein wenig regnerischen Nachmittag schauen also nur wir beide zu, wie Aenne die Große einen Container nach dem anderen verdaut bzw. stapelt. Ganz voll scheint sie nicht zu werden, die Ladung wird nach der Breitmaulfroschtechnik back- und steuerbords verteilt, die Mitte bleibt zum Teil frei. Eigentlich sind wir früher fertig als geplant, also wird im Schneckentempo  geladen, damit die Reederei keine Konventionalstrafe zu bezahlen braucht - was man nicht alles lernt! Kay lernt übrigens eine Menge vom Master, unter anderem über unser „Aldi-Schiff”, das schlechte Schlechtwettereigenschaften hat, dafür aber, anders als die „weicheren” Schiffe mit höherem Freibord, bei einer Freakwelle nicht umkippt - tröstlich, tröstlich! Trotz der Bummelei sind wir gegen sechs Uhr fertig und nun läuft der Dampfer - sanft dirigiert von einem Tug-Boat am Arsch - weil wir doch nur einen Thruster haben - aus. Wir schaffen die 90°-Kurve, und dann bewegen wir uns langsam auf der Schelde der Nordsee entgegen. Dabei gibt es viel Rotterdam zu sehen, und zum Abschluss grüßen die beiden Fähren, die in Hoek van Holland auf Gäste nach England warten, bevor wir uns in die große Schlange der kanalgehenden Schiffe einreihen. Gegen neun spendiert Sunny uns noch die bestellten Getränke, da wir wohl nun die internationalen Gewässer erreicht haben, und nach einem letzten Schluck Rotwein geht es in die Heia - wir haben gut geschlafen.

Donnerstag, 10.8.
Unser erster „voller” Tag auf  See. Vormittags lernen wir ein bisschen Spanisch, und Ini holt sich im gar nicht mal ungemütlichen Deck-Chair trotz Schmieren fast einen Sonnenbrand, und dann muss schon wieder gegessen werden. Ini bleibt in Anbetracht eines opulenten Zwei-Ei-Frühstücks tapfer beim Salat, während Kay den Lammkoteletts nicht zu widerstehen vermag. Dafür folgt die Belohnungsstrafe auf dem Fuße: Er muss zum Sport und rudern und Rad fahren, was Ini wg. pünktlich ausgedingstem Rücken zum Glück erspart bleibt. Es darf gelesen werden. Dabei ist es auch heute trotz der ersten Nacht, in der ich wie ein Klotz geschlafen habe, nicht leicht, die Augen offen zu halten: Das Brummen und Schaukeln des Schiffes lullt auch wache Menschen ein. Der Sportheld kommt verschwitzt wieder und muss duschen. Ein bisschen rausgucken, ein bisschen lesen, und schon wieder ist es Zeit zum Abendessen. Sunny vollführt seine Routine unerbittlich mit “Good evening - Excuse me, Sir  - Would you like something to drink? Some juice or water?? - Excuse me Maam, today we have…“ Today we have Chicken with Pasta, die aber nur Ini verputzt, Kay bleibt fast brav beim (Käse)Salat. Zur Belohnung geht es hinterher auf die Brücke, auf der der Erste in Plauderlaune ist. Und so erfahren wir viel über moderne Handelsschiffahrt, sowohl technisch als auch sozial.
Technisch: Grundlegend werden moderne Handelsschiffe - und auch nicht ganz so moderne wie die Aenne - heute von einem Menschen mit Hilfe eines Trackballs und zweier Drehknöpfe gefahren. Der Trackball kontrolliert Radar und GPS, deren vereinte Kenntnisse auf einem großen Schirm dargestellt werden - d.h., alle Schiffe der Umgebung werden mit technischen Daten, Geschwindigkeit und Kurs dargestellt. Sie ziehen ihren „Schwanz“ der letzten 6 Minuten, falls der Offizier so will, hinter sich her und schieben ihre Trajektorie vor sich her. So lässt sich selbst für Laien erkennen, dass wir zwei parallel fahrenden Schiffen in etwa einer halben Stunde auf zwei Kabel Länge nahekommen werden. Ergo entschliesst sich der Chief-Officer, sich starboard sechs Kabel entfernt zu halten - ein Dreh am Knöpfchen um zwei Grad nach Osten erledigt die Sache. Die Maschine läuft gleichfalls von der Brücke aus gesteuert, der Chef-Ingenieur und die Oiler sind um halb sechs in Feierabend gegangen, und der Maschinenchef lässt sich die Maschinendaten in seine Kammer übermitteln. Fauler Sack - so deutet der Nautiker sanft an; die Ingenieure haben ihre Kabine auf dem prestigeträchtigen F-Deck eigentlich nicht mehr verdient, während der Chef-Nautiker auf dem E-Deck „hausen“ muss. Auch lernen wir vom „Ersten“ viele (Vor–)Urteile über die Schiffahrt in ihren sozialen Auswirkungen kennen: Wir erfahren viel über
den „spielerischen“ Kampf zwischen Schiffsführung und Agenten über die Beladung der Schiffe
die Lohndrückerei der Reeder, da es immer noch billigere Mannschaften gibt
die Franzosen, die kein Englisch können
die Asiaten, die als Offiziere „es“ nicht so gut können, da sie zu viel reden und zu wenig selbständig handeln
den immer größer werdenden Papierkrieg für die Schiffsführung
und  manches andere.
Bei all dem Geplaudere wandert der „Erste“ zwischen seinem Recaro-Sitz, den er nicht benutzt, und dem Kartentisch hin und her, auf dem er ganz klassisch mit dem Zirkel den Kurs abträgt; dabei kommt er am alten, nicht mehr benutzten manuellen Steuerstand vorbei, er trägt gelb-grün gepunktete Shorts, um seinen Hals hängt der USB-Stick mit allen Schiffs- und Ladedaten. Zwischendurch hat er noch Zeit, den Koch, der neuen „schlechten“ Kaffee für die Brücke gebracht hat und anschließend deren Fenster putzt, anzuscheissen.  Kurz nach acht kommt der „Dritte“ dazu - zwischen 20 und 6 Uhr ist die Brücke doppelt besetzt. Sofort wird die Stimmung förmlich und steif, und wir verabschieden uns.

Freitag, 11.8.
Wie zu erwarten war, stellt sich allmählich eine gewisse Routine ein. Der Tag ist durch die Essenszeiten recht straff gegliedert, und zwischendurch heißt es „arbeiten“, sporten, spielen und - nicht zu vergessen - nappen. Ini hat inzwischen angefangen, das Draußendasein zu testen, das in unserem Golfer-Kulle-Deckchair angenehm ist, in Anbetracht der beißenden Sonne und des reflektierenden Wassers aber mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Kay ist bisher noch überwiegend drinnen tätig - ein gehörig widerstandsfähiger Stuhl muss erst noch besorgt werden.
Gestern war es draußen mit Fließjacke schon aushaltbar, heute geht es im T-Shirt - wir fahren seit gestern Abend, als wir Finisterre erreicht haben, nach Südsüdwest. Heute hat uns lange Stunden die Biscaya im Griff, mit schwachem Wind und makellos blauem Himmel, aber dennoch einer eindrucksvollen Dünung, deren Höhe von hier oben - wir bieten 26 Meter auf dem F-Deck - schwer zu schätzen ist. Jedenfalls rollt Aenne merk- und sichtbar, aber für unsere Begriffe gemütlich.
Am späten Nachmittag nähern wir uns etwas, was auf den ersten Blick aussieht wie eine Schlechtwetterfront, sich aber dann als air pollution oder Waldbrand oder einfach Haze entpuppt - es ist, wie wenn man aus der Wüste nach Kalifornien kommt. Unsere - vermutlich falsche - Vermutung: Die Biscaya liegt hinter uns, wir sind wieder nahe an der Küste, und der Ostwind pustet den Dreck vom spanischen Festland auf den Atlantik hinaus. (Es handelt sich tatsächlich nur um Warmnebel.)
Verkehrsmäßig wird es allmählich dünner, obwohl bestimmt viele Schiffe gemeinsam mit uns Gibraltar ansteuern, aber es lassen sich immer weniger blicken, zumindest weniger Handelsschiffe. Dafür gab es zum Ausgleich heute mittag eine Phase, in der sich die Segelschiffe sozusagen die Meeresklinke in die Hand gaben - wahrscheinlich hat ganz Biarritz das strahlende Wetter für einen Ausflug benutzt.
Von Hamburg nach La Spezia
Samstag, 12. August 2006